Die gelbe Tapete im Datenschutz – Awareness für einen (fast) unsichtbaren Schutz
04. September 2025Kirsten Bock
Es gibt eine englische Kurzgeschichte aus dem Jahr 1892 mit dem Titel The yellow Wallpaper von Charlotte Perekins Gilman. Darin beschreibt die Autorin, wie eine Frau nach und nach der Vorstellung verfällt, hinter einer Tapete sei eine Frau gefangen. Was uns heute wie ein bizarrer literarischer Albtraum erscheint, war damals nicht nur eine künstlerische Fantasie, sondern auch eine schleichende Gefahr.
Um modische, knallige Farben möglichst günstig herzustellen, mischten viele Hersteller Arsen in ihre Farben.1 Dies führte zu erheblichen Gesundheitsproblemen. Die Vorstellung, durch eine Tapete Halluzinationen zu erleiden, war im Jahr 1892 erschreckend real. Ein unregulierter Markt, der auf schnelles, billiges Wachstum setzte, setzte viele Menschen tagtäglich gefährlichen Dämpfen aus. Etliche Alltagsprodukte enthielten häufig giftige Schadstoffe wie Anilin, Arsen, Blei oder Quecksilber.2 Obwohl vereinzelt Mediziner auf die potenziellen Nebenwirkungen der Zusätze aufmerksam wurden,3 war die Erfassung der Folgen lange Zeit kein Thema. Einige dieser Stoffe und Methoden sind bis heute nicht verboten.4
Nicht alle Menschen reagieren gleich sensibel auf pathogene Stoffe. Viele waren der Meinung, man könne ja einfach beim Einkauf aufpassen. Außerdem würde sich der Markt schon selbst regulieren. Die Hersteller reagierten jedoch nicht mit Verbesserungen, sondern behaupteten einfach, ihre Produkte seien unbedenklich und mischten fröhlich weiter. Irgendwann wurde jedoch klar: Einzelne Verbraucher konnten sich nicht selbst schützen. So entstanden Schritt für Schritt Regelwerke, die es uns heute ermöglichen, eine Tapete auszuwählen, ohne unsere Gesundheit zu riskieren.
Es werden auch heute noch Produkte entwickelt, die sich später als schädlich herausstellen können. Denn jeder Stoff erscheint solange als unbedenklich, bis Verfahren entwickelt sind, die seine Auswirkungen nachweisen können. Bei den Auswirkungen umfassender Datenverarbeitungen ist es nicht anders. Wir tun uns bisweilen schwer damit, Risiken richtig einzuschätzen und Anreize für unbedenkliche Dienste zu schaffen.
Risiken erkennen
„Hysterie“ war damals das Wort, mit dem Frauen als „zu empfindlich“ abgestempelt wurden. Heute heißt es, Datenschützer*innen seien Nörgler*innen5 oder Bremser*innen6, die den Fortschritt behindern. Schon damals setzte man auf den Mythos des selbstverantwortlichen Konsumenten – und auch heute wird uns immer wieder erzählt, dass wir uns doch die „richtigen“ Produkte aussuchen könnten, wenn wir uns nur genug bemühen würden. Der Chic von damals ist heute die Bequemlichkeit und vermeintliche Effizienz, die mit Gewinnsteigerungen verknüpft sind. Doch wer kann schon die potentiellen Risiken einer überbordenden Datenverarbeitung erkennen?
Schon früh wurde erkannt,7 dass bestimmte Arten der Datenverarbeitung unerwünschte und teils sozialschädliche Folgen nach sich ziehen können – sowohl für einzelne Personen als auch für unsere Gesellschaft. Da, wo die farbenfrohen Tapeten uns damals zur „Wahnsinns-Wand“ führten, konfrontieren uns heute digitale Tapeten aus Überwachung und Manipulation. Die sozialschädlichen Folgen der Datenverarbeitung treten immer dort zutage, wo am meisten Kontakt besteht. „Clickworker“ sind tagtäglich mit dem psychischen Stress konfrontiert, Millionen von verstörenden Inhalten zu filtern.8 Auch Hass und Hetze im Internet sind sozialschädliche Folgen einer Datenverarbeitung, die mit ihrem toxischen Spektrum an Hasskommentaren den Boden bereiten für gesellschaftliche Spaltungen – das sind nur einige der heutigen „Nebenwirkungen“ einer unregulierten Datenverarbeitung, die die informationelle Integrität der betroffenen Personen verletzt.
Oft sind es nicht die expliziten Risiken, die uns Probleme bereiten. Es sind die subtilen, die sich langsam einschleichen und unsere Wahrnehmung auf eine falsche Fährte führen. Diese „neuen“ Risiken, die sich im Schatten der digitalen Welt verbergen, sind ebenso gefährlich wie die Gifte in den Farben der vergangenen Zeit – und auch heute tut sich die Gesellschaft schwer, diese Gefahren zu erkennen.
Nur ein Achselzucken
Im Datenschutz gelingt es bislang nur unzureichend, Fehlverhalten zu skandalisieren und eine kollektive Empörung zu erreichen, die das gesellschaftlich erwünschte Verhaltens justiert. Überwachung, Beeinflussung und die Dekonstruktion demokratischer Errungenschaften werden hinlänglich mit einem Achselzucken quittiert. Der Einzelne sieht oftmals weder persönliche Risiken noch Schäden, sondern lediglich vermeintliche geldwerte Vorteile. Allein augenfällige Überwachung, wie z. B. die Videokamera des Nachbarn, führt zu Empörung. Die Zahl der Beschwerden in diesem Bereich nimmt stetig zu. Bei der Überwachung und Ausforschung durch Unternehmen bleibt man hingegen gelassen. Den Staat lässt man gewähren, solange im unübersichtlichen Dickicht der Digitalisierung die persönliche Bequemlichkeit gewinnt.
Mögliche Ursachen für diese Gleichgültigkeit können in der Unkenntnis der tatsächlich stattfindenden Verarbeitungsvorgänge und deren Umfang liegen. Ein weiterer Grund könnte sein, dass man sich als einzelne Person meist nicht wirksam schützen kann. Doch die gesellschaftlichen Tendenzen weisen in eine andere Richtung. Ähnlich wie damals den Einzelnen die Verantwortung aufgebürdet wurde, wird auch heute in einem zunehmend sozialdarwinistischen Freiheitsverständnis jede*r für sich selbst verantwortlich gemacht und ausschließlich der – oft kostenpflichtige – sogenannte Selbstdatenschutz propagiert. Parallel dazu können wir einen schleichenden Rückbau staatlicher Verantwortlichkeit beobachten. In der Klagebegründung im Verfahren vor dem VG Köln (Urteil vom 17.07.2025 - 13 K 1419/23) entzieht sich die Bundesregierung beispielsweise ihrer Verantwortung und überlässt es den Bürger:innen, die Risiken der Beobachtung ihres Informationsverhaltens beim Besuch der Fanpage-Seite der Bundesregierung durch den Meta-Konzern einzuschätzen.9 In den USA können wir bereits den Rückbau ganzer staatlicher Institutionen und Regulierung beobachten.
Awareness schaffen
In letzter Zeit frage ich mich mit Nachdruck, wie vor allem Menschen in der Politik wieder dazu bewegt werden können, Grundrechte wertzuschätzen und sich über die Bedeutung der datenschutzrechtlichen Regelungen zur fairen Ausgestaltung der Prozesse in der Informationsgesellschaft bewusst zu werden. Wie bekommen wir als Datenschutz-Community die Mandatsträger*innen dazu, das Grundrecht auf Datenschutz als grundlegenden Baustein für eine lebendige Demokratie zu sehen und in ein konstruktives Licht zu rücken? Wie stärken wir den Willen, sich für eine offene Gesellschaft einzusetzen und diese nicht als Bedrohung zu sehen? Wie vermitteln wir, was diese, zugegebenermaßen weitreichende Frage, mit Datenschutz zu tun hat? Konkret gefragt: Welche Geschichten sind notwendig, um Echtzeit-Massenüberwachungstools wie die des US-Anbieters Palantir, die im Namen der Sicherheit betrieben werden sollen, als das zu entlarven, was sie wirklich sind? Und noch viel wichtiger: Wie beschreiben wir den Wert der Alternativen attraktiv?
Es ist lange bekannt, dass Narrative einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung haben. Was immer wieder wiederholt wird, prägt sich ins Gedächtnis ein.
Eine Kultur der Achtsamkeit bedeutet, das Grundlegende hervorzuheben. Sie soll nicht bedeuten, untätig zu bleiben. Dabei geht es nicht nur um die Skandalisierung von Fehlverhalten, sondern insbesondere um die Hervorhebung von sozial erwünschtem Verhalten und um gelungene Projekte. Das ist zuallererst Aufgabe der Politik. Das können wir aus dem Aufstieg von Meta lernen. Als es um die Frage „Facebook oder StudiVZ?“ ging, misslang die Skandalisierung. Weder wurde das geltende Recht durchgesetzt, noch wurden die Vorzüge eines rechtskonformen Dienstes ausreichend deutlich gemacht. Dabei gilt es stets, sich auf wesentliche Fragen zu konzentrieren, statt sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren oder nach dem sprichwörtlichen letzten Haar in der Suppe zu suchen. Die Kritik an US-amerikanischen Dienstangeboten zielt nicht allein darauf ab, ob eine Einwilligung im Unternehmensdesign erfolgt oder bestimmte Gestaltungselemente das Verhalten der Nutzer*innen gezielt beeinflussen. Es geht vielmehr darum, dass zumindest der Staat seine Bürger*innen in Zeiten hybrider Kriegsführung nicht der Willkür ausländischer Geheimdienste überlässt. Das ist, gesamtgesellschaftlich betrachtet, keine Kleinigkeit, sondern grundlegend. Denn es ist Aufgabe des Staates, den Schutz seiner Bürger*innen und der Menschenrechte zu gewährleisten. Diese Aufgabe gerät jedoch allzu oft in Vergessenheit.
Neue Kleider für den Datenschutz
Ein umfassend gedachter Datenschutz braucht ein positives Image. Es ist jedoch nicht Aufgabe der Datenschutzaufsicht, für einen Imagewandel zu sorgen. Schließlich lobt auch das Finanzamt keine besonders guten Steuerzahlenden. Aber vielleicht liegt hier gerade das Problem. Denn Steuern zu zahlen gilt ebensowenig als „sexy“ wie Datenschutzfreundlichkeit. Dabei dienen beide der Fairness und dem Gemeinwohl. Diese Grundelemente gilt es herauszuarbeiten und zu betonen. Die Regeln und Prinzipien des Datenschutzrechts helfen dabei, personenbezogene Daten zu nutzen. Diese Regeln sind notwendig, da sie sowohl das gesellschaftliche als auch das wirtschaftliche Vertrauen in die Institutionen stärken und Verlässlichkeit schaffen. Die Beachtung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist ein wesentlicher Bestandteil des Rechts auf Datenschutz und sorgt für die unbeobachteten Freiräume, die die Individuen in einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft so dringend benötigen.
Beim Sonnenschutz ist jedem klar, dass damit nicht die Sonne geschützt wird, sondern die schädlichen Auswirkungen der Sonnenstrahlung abgemildert werden sollen. Beim Datenschutz wird es vermutlich noch eine Weile dauern, bis überall angekommen ist, dass es um den Schutz vor den gesellschaftlich unerwünschten Folgen der Datenverarbeitung geht.
1 Vgl. z.B Hawksley, Gefährlich schön. Giftige Tapeten im 19. Jahrhundert, 2018.
2 Arsenkleider, Quecksilberhüte und leicht entflammbare Stoffe sorgten schon im Viktorianischen Zeitalter für viel Leid. Vgl. Little, Die tödliche Mode des 19. Jahrhunderts, in: National Geographic, 17. Oktober 2018, nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2018/10/die-toedliche-mode-des-19-jahrhunderts/
3 British Medical Journal, Jg. 1862, S. 177.
4 Vgl. AOK, Von reizend bis giftig: Wie Schadstoffe in der Kleidung der Gesundheit schaden können, 3. Mai 2021, www.aok.de/pk/magazin/nachhaltigkeit/kleidung/schadstoffe-in-der-kleidung-so-schuetzen-sie-sich/
5 Vgl. für viele z.B. Erhardt-Maciejewski, Christian, KOMMUNE.HEUTE, Ausgabe 31.07.2025.
6 So etwa Streim, Datenschutz wird immer öfter zur Innovationsbremse, Berlin, 23. Mai 2025, www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Datenschutz-Innovations-Bremse
7 Podlech, Individualdatenschutz – Systemdatenschutz, in: Brückner, K. Dalichau, G. (Hg.), Beiträge zum Sozialrecht – Festgabe für Hans Grüner, Percha 1982, S. 451-462 (452).
8 Vgl. Zota, Volker, Missing Link: Clickworker – die gequälten Seelen der Content-Industrie, heise.de v. 11.08.2024
9 Rn. 61, 68.
Dieser Artikel erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Erich Schmidt Verlages und wurde zuerst in der PinG – Privacy in Germany 5 / 2025 am 29.08.2025 veröffentlicht.